Gesucht: Baujurist/in für Zürich
Die Stadt wird bald so verdichtet, dass allen die Luft wegbleibt. Da braucht es dringend Fachleute für Einsprachen und Rekurse. Also Sie!
Suchen Sie einen Superjob? Sehr guter Lohn, krisensicher, geregelte Arbeitszeit, kein Stress? Dann sollten Sie Baujurist oder Baujuristin werden – und Ihre Villa an der Goldküste rückt näher. Weite Teile Zürichs werden in den nächsten 20 Jahren komplett umgebaut, 100000 Einwohner zusätzlich drängen in die Stadt. So lautet die Prognose, auf die sich der Richtplan stützt, den der Stadtrat kürzlich beschlossen hat. Die Stadt wird verdichtet, auf dass sich die Kräne biegen und die Betonmischer glühen. Doch wo ein Bauprojekt, ist immer auch ein Nachbar mit unnatürlich gutem Gehör, der meint, ein Recht auf Ruhe und Aussicht zu haben. In Zürich wird es Rekurse in einer Dichte hageln, die jedes Gewitter neidisch macht. Und dafür braucht es Fachleute, also Sie!
Die Baujuristerei ist vielseitig, viel abwechslungsreicher als etwa das Scheidungsrecht. Mit etwas schlechtem Willen kann man sich an allem stören, was nach Gebäude aussieht: Grösse, Abstand, Farbe, Parkplatz, Schatten, Lärm, Spielplatz, Denkmalschutz, Antenne. Selbst das Wohlergehen der Quallen würde eingewendet, wenn es in Zürich welche gäbe. Man erinnere sich bloss an das Gemeine Widderchen: ein winziger Schmetterling, der in Fluntern einen ganzen Rebberg verhinderte. Überhaupt befasst sich die vermeintlich trockene Juristerei viel mit Tieren: mit dem Gebell von Hunden, dem Krähen der Hähne, dem Gebimmel von Kühen. Oder dem Geläut der Kirchen, das schon so manchem Rechtsanwalt den Porsche finanziert hat.
Die Höhe, das Stadtbild
Die Vielfalt der Themen, die das Einsprachewesen so interessant macht, führt derzeit das Fussballstadion vor Augen, das am Hardturm geplant ist. Es ist ein erstklassiges Studienobjekt für Verhinderungskultur. Schauen wir doch mal kurz, was sich alles gegen ein Projekt einwenden lässt, das auf den ersten Blick nur Vorteile bietet: Die Credit Suisse stellt FCZ und GC ein Stadion zur Verfügung, ein richtiges Fussballstadion mit steilen Rampen und Höllenlärm, das den auswärtigen Clubs den Schneid nimmt, kaum betreten sie den Rasen. Finanziert wird dieser Hexenkessel über zwei Türme mit 570 privaten Wohnungen auf städtischem Boden. Hinzu kommen 174 gemeinnützige Wohnungen der Allgemeinen Baugenossenschaft. Offensichtlich eine Win-win-Situation. Keinesfalls, meint das Komitee «Gegen den Höhenwahn», dem FDP-nahe Männer aus Höngg vorstehen und das Widerstand aus allen Rohren in Aussicht stellt. Was bringen sie vor?
1) Die Höhe. Zu hoch, zu gross, zu breit, zu lang – das Volumen ist der Klassiker bei Rechtsmitteln. Für die Nachbarn ist jeder Neubau zu hoch, man denke nur ans neue Kunsthaus oder das Kongresszentrum am See. In Zürich sind Bauprojekte zu gross, bevor es sie überhaupt gibt. Weil «gross» und «hoch» wenig dramatisch tönen, geisselt das Höngger Komitee die Wohntürme, die nur elf Meter höher sind als der Prime Tower, als «masslos», «monströs», vom «Höhenwahnsinn» befallen. Im Himalaja droht die Höhenkrankheit auf 8000 Metern, in Zürich bricht sie nach Meinung der Höngger offenbar schon auf 400 Metern über Meer aus. Vielleicht hätten die Schweizer Demokraten vor neun Jahren auch so auf die Tube drücken müssen, um ihrer Volksinitiative «40 Meter sind genug» zum Erfolg zu verhelfen. Doch sie schrieben brav von «Klötzen» und «Wolkenkratzern» und erhielten in der Abstimmung bloss 27 Prozent Zustimmung.
2) Das Stadtbild. Wichtig bei Einsprachen ist, vom persönlichen Interesse, vom Nachbaregoismus abzulenken und der Kritik Allgemeingültigkeit zu verleihen. «Städtebaulich falsch» heisst der Einwand in der Fachsprache, der Laien aber nicht richtig packt. Deshalb braucht es ein griffigeres Wort: Verschandelung! Wo immer sich Widerstand regt, ist die Verschandelung sofort da, unvergessen etwa im Fall Hafenkran, wo SVP und FDP so lange vor der Verschandelung der Altstadt warnten, bis sie sich vor jedem Baukran erschreckten.
Die sensitiven Stadiongegner aus Höngg warnen neben der Verschandelung Zürichs sogar vor der «Zerstörung» des Stadtbildes und greifen zu Bildern, die selbst die aufmüpfigen Juso nicht wagen würden: «Der Blick vom See ins Limmattal wird von Beton versperrt. Bald sieht man von Höngg aus statt Alpen, Uetliberg, Altstadt und See nur noch graue Fassaden.» Stehen die Höngger Aktivisten noch immer unter dem Schock des 118 Meter hohen Getreidesilos, den das Volk gegen den Willen von Stadtkreis 10 bewilligt hat? Geht es um Rache? Die Stadt hat uns den Swissmill-Tower aufgezwungen, jetzt gibts zur Strafe kein Stadion? Es gilt die Unschuldsvermutung.
3) Der Schatten. Das Sprichwort «grosse Ereignisse werfen ihre Schatten voraus» wird im Hochbau konkreter, als es den Investoren lieb ist. Paragraf 284 des Planungs- und Baugesetzes schreibt vor, dass die Nachbarschaft nicht «wesentlich» beeinträchtigt werden darf, insbesondere nicht durch Schattenwurf in Wohnzonen oder gegenüber bewohnten Gebäuden. Schon das erste Stadionprojekt – mit Einkaufszentrum – wurde deswegen kritisiert. Diesmal versichern CS und Stadtrat, es gebe keinen ungebührlichen Schattenwurf. Das Komitee «Eltern gegen eine Schule im Schatten» widerspricht dramatisch: «Am Morgen in der halbstündigen 10-Uhr-Pause auf dem Hardhof spielen sie (die Schüler des Schulhauses am Wasser) vor Kälte zitternd im Vollschatten der Türme. Dann rennen sie den beschatteten Uferweg entlang zurück zur Schule. Der Hochhausschatten ist pünktlich zur Mittagspause auf dem Schulhof.»
Vielleicht doch nicht Juristerei?
Ein aufwühlendes Bild, selbst wenn der Schatten mit der Klimaerwärmung sein Image verbessert hat. Schon der Getreidesilo wurde 2011 wegen des Schattens verflucht. Damals fürchteten die Badegäste im Unteren Letten Erfrierungen. Im Rest der Stadt stellte sich kein Mitleid ein. Das könnte jetzt mit den zitternden Schulkindern besser klappen.
So anschaulich unter der Nullgradgrenze dürfen Sie als Baujurist (w/m) Ihren Rekurs nicht formulieren. Ihre Kunst besteht darin, allein mit Gesetzen und Verordnungen die Gerichte zum Frieren zu bringen. Wichtig ist, die Eingabe fristgerecht auf die Post zu bringen. Noch anspruchsvoller, als Stadtbild und Schatten juristisch handfest zu machen, wäre, die übrigen Argumente der Stadion-Gegner am Gericht vorzutragen. Etwa die Behauptung, eine Wohnung in Zürich mit 3½ Zimmern für 2500 Franken sei Luxus. Sollten Sie diese Meinung teilen, lassen Sie die Juristerei lieber und treten der SP bei. (Tages-Anzeiger)
Erstellt: 31.10.2018, 14:32 Uhr
https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/be ... y/17287427
Izidor Kürschner (1885-1941), ungarisch-jüdischer Fussballlehrer, GCZ-Meister- (1927, 1928 & 1931) und Cupmacher (1926, 1927, 1932 & 1934).