Sie haben von einer Sekunde auf die andere nichts mehr zu tun – dann warten arbeitslose Fussballtrainer sehnsüchtig auf einen Anruf
In kaum einem anderen Beruf ist die Abhängigkeit von anderen so grosss wie als Coach. Wie ausgeprägt sind Einsamkeit, Verzweiflung, Hoffnung nach Entlassungen? Marco Schällibaum, Bruno Berner und Alessandro Mangiarratti erzählen aus ihrem Alltag.
Marco Schällibaum sagt: «Ich lief wie ein Zombie herum.» Bruno Berner sagt: «Die ersten Tage waren sehr hart, weil ich von einer Sekunde auf die andere im Fussball nichts mehr zu tun hatte.» Alessandro Mangiarratti sagt: «Es tat brutal weh. Zumal ich davon überzeugt war, dass wir den Ligaerhalt geschafft hätten.»
Der Fussballtrainer Schällibaum verlor seinen Job bei den Grasshoppers am 5. November 2024. Sein Vorgänger Berner am 9. April 2024. Mangiarratti war Schällibaums Nachfolger bei Yverdon und wurde am 17. Dezember 2024 freigestellt.
Schällibaum, Berner und Mangiarratti sind arbeitslos. Sie arbeiten in einem Geschäft, in dem es wenige Stellen, aber viele Bewerber gibt. Die Wege kreuzen sich: heute Yverdon, morgen GC, irgendwann Sitten. Es gibt wohl wenige andere Jobs, in denen man derart abhängig ist von anderen. Klubführung, Sportchef und das Team beeinflussen die Tätigkeit, es geht um Spielglück, Verletzungen, Zentimeter. Und wenn es nicht wie gewünscht läuft, wird man ausgetauscht. Der Nächste, bitte!
Die erfolgreichsten Schweizer Trainer sind derzeit arbeitslos
Im Profifussball hält sich ein Coach durchschnittlich kaum länger als ein Jahr auf dem Posten. Entlassungen werden den Trainern manchmal in kurzen Telefongesprächen mitgeteilt. Aus und vorbei. Zombie-Zeit. Raus aus dem Business, rauf aufs Karussell. Auf dem drehen in der Schweiz derzeit sogar die erfolgreichsten Trainer der Neuzeit ihre Runden: Lucien Favre, Urs Fischer, Marcel Koller, Christian Gross. Aber auch Super-League-Prominente wie Raphael Wicky, Peter Zeidler, Patrick Rahmen. Und das sind nur die bekanntesten Namen.
Wie fühlt sich das an, wenn einem kurz und kühl gesagt wird, dass man nicht gut genug ist? Schällibaum sagt, die Einsamkeit als Coach sei extrem – auf dem Trainerposten, aber auch auf Jobsuche. Berner sagt, es sei sehr wichtig, gute private Strukturen zu haben. Und Mangiarratti sagt, es sei enorm ungerecht, wenn andere über einen entschieden, die impulsiv seien und nur kurzfristig dächten.
Es heisst ja, ein Fussballtrainer sei erst ein kompletter Fussballtrainer, wenn er einmal entlassen worden sei. Ganz abgesehen davon, dass diese Aussage nicht mehr als ein hübsches Bonmot ist, würde wohl jeder Coach auf diese Erfahrung gerne verzichten. Wobei Freistellungen die Gelegenheit bieten, sich neu auszurichten, den Akku zu laden, die eigene Arbeit zu analysieren. Josep Guardiola nahm einmal ein Jahr eine Auszeit, lebte nach der intensiven, erfolgreichen Zeit beim FC Barcelona im Sabbatical in New York – ehe er 2013 in München beim FC Bayern unterschrieb.
Berner spricht von der «Universität des Lebens»
Bruno Berner ist ein Mensch, der reflektiert wirkt, kluge Sätze sagen kann, kommunikativ auch als TV-Experte überzeugt. Er sagt, in den ersten Tagen nach der Freistellung bei den Grasshoppers sei er wie im Dunkeln gewesen. «Man tastet sich zurück ins Leben.»
Nachdem Berner am Telefon vom damaligen Sportchef Stephan Schwarz darüber unterrichtet worden war, nicht mehr GC-Coach zu sein, sei es ihm wichtig gewesen, sich von allen persönlich zu verabschieden. Er ging am Tag danach noch einmal auf den Campus, schüttelte viele Hände, bedankte sich auch bei der brasilianischen Putzfrau und dem Platzwart, räumte seinen Spind – und traf überraschend Marco Schällibaum, der damals noch nicht als Nachfolger kommuniziert worden war. Ein kurzes Gespräch, vorbei war Berners GC-Zeit.
Der eine geht, der andere kommt. Speziell bei dieser Rochade war, dass Berner und Schällibaum beide eine GC-Vergangenheit als Fussballer und ein Herz für den Verein haben. «Wenn man emotional an einem Klub hängt, ist es noch schwieriger, loslassen zu können», sagt Berner. Er ist ein wissbegieriger Mensch, der die Freistellung bald als Chance begriff, den Horizont zu erweitern. «Ich ging in die Universität des Lebens», sagt er.
Berner hatte endlich einmal mehr Zeit für die Familie, für die Tochter, 14, und den Sohn, 12, die für ihn gefühlt durch die Kindheit gerauscht waren, weil der Fussball eine so zentrale Rolle in seinem Leben eingenommen hatte. Berners Frau kündigte ihren Job, die Kinder nahmen sie aus der Schule, damit sie als Familie die Welt entdecken konnten – und sich selbst.
Auf Weltreise mit der Familie – und zur Fortbildung
Die Berners waren ein halbes Jahr unterwegs. Sehnsüchte und Träume stillen, Spuren im Sand hinterlassen, Aussergewöhnliches erleben. Auf den Fidschi-Inseln, auf Samoa, in Neuseeland und Japan, im Lieblingsland Australien. Berner sagt: «Wenn man reist, lernt man viel. Auch über andere Kulturen. Das ist es, was ich meine, wenn ich sage, an der Universität des Lebens zu sein.»
In Japan besuchte der 47-Jährige den nationalen Fussballverband und drei Klubs aus der J-League. In Australien traf er seinen früheren Mitspieler Mile Sterjovski, der ebenfalls Trainer ist, und schaute bei fünf Vereinen rein. Auf den Fidschi-Inseln besuchte er Timo Jankowski, den er aus der Trainerausbildung kennt – und der dort als technischer Direktor des Verbandes arbeitet. Jankowski beginnt im Sommer als Nachwuchschef beim FC Basel.
Grosse, weite Welt – kleine, enge Fussballwelt.
Berner erzählt von der japanischen Disziplin und vom Respekt dort, von der Lebensfreude auf den Fidschi-Inseln, von der Lockerheit in Australien. Letztlich gehe es als Fussballtrainer heute auch darum, in einer Kabine eine Mannschaft zu führen und zusammenzubringen, die aus vielen Nationalitäten bestehe. Bei GC waren Fussballer aus allen Kontinenten in seinem Kader. «Und wenn ich verstehe, wie die Spieler in Asien oder Ozeanien aufwachsen, verstehe ich ihr Verhalten besser», sagt Berner.
Der Zürcher erinnert in seiner akribischen Art an Gerardo Seoane, heute bei Borussia Mönchengladbach tätig. Die beiden haben den gleichen Berater, und so hospitierte Berner auch bei Seoane in der Bundesliga. Er war in England bei Wolverhampton, dem früheren GC-Partnerklub, er schaute in andere Sportarten rein, war auf den Fidschi-Inseln beeindruckt von den Ritualen im Rugby, in Japan begeisterte ihn der Fokus in der Nachwuchsarbeit.
Nun ist Berner bereit für die nächste Herausforderung. «Dieser Job kann wie eine Sucht sein», sagt Berner. Er träumt von einem unaufgeregten, strukturierten Klub wie dem SC Freiburg, für den er früher spielte – und der wie ein Gegenentwurf zum chaotischen GC ist.
Man traut Berner eine ähnliche Karriere wie Seoane zu, er stand bei YB und beim FC Basel schon weit oben auf der Kandidatenliste. Er hat Geduld, will nichts überstürzen, lässt sich Zeit mit der nächsten Anstellung. Die Frage ist: Wie lange kann er auf eine Traumlösung warten?
Fatalismus hilft, um die Gesetze der Branche zu akzeptieren
Marco Schällibaum ist seit 27 Jahren Trainer. Er kennt die Liga. Und die Liga kennt ihn. Man weiss, was man bekommt, wenn man ihn verpflichtet. Einen emotionalen, leidenschaftlichen, menschlichen Trainer. Schällibaum sagt, er wisse um seinen Ruf und sein Image. «Wenn man Bestandteil des Geschäfts ist, gibt es kaum Geheimnisse», sagt er.
Aber selbst wenn Schällibaum schon zwei, drei Entlassungen erlebt hat, schmerzte ihn die Freistellung bei GC im vergangenen Herbst sehr. Es sei in ein «grausames Loch» gefallen, er hänge am Grasshopper-Club. «Trennungen tun immer weh», sagt Schällibaum, «privat und beruflich.» Auch ihm wurde die Entlassung von Stephan Schwarz überbracht, der heute selbst nicht mehr der GC-Sportchef ist.
Schällibaum hat Zeit benötigt, um den Rauswurf zu verarbeiten. Im vergangenen Sommer war er noch der Held, als er GC in der Barrage gegen den FC Thun vor dem Abstieg gerettet hatte. Auch er war überzeugt davon, dass er die Ziele erneut erreicht hätte. «Aber welcher Trainer ist das nicht?», fragt er. Im Fussball würden die Trainer halt rasch geopfert. Pragmatismus, Fatalismus. Schällibaum ist in seinem Leben nach Rückschlägen und Trennungen immer wieder aufgestanden, privat und beruflich. Er sagt, für ihn sei es besonders schlimm, wenn er am Morgen nach dem Aufstehen keine Aufgabe habe.
Während des Gesprächs ist Schällibaum gerade mit seiner Partnerin in Portugal in den Ferien, er hat drei Kinder, ist Grossvater, es gibt mehr als Fussball in seinem Leben. Aber ohne ihn geht es noch nicht. «Das ist mein Leben», sagt Schällibaum. «Und wie im richtigen Leben muss man es aushalten können, auf der Achterbahn unterwegs zu sein.»
Er habe eine schöne Karriere gehabt, als Fussballer sowieso, aber auch als Trainer. Die Aufstiege mit YB, Bellinzona und Yverdon, die Emotionen mit GC vor einem Jahr, er war im Europacup mit Servette und YB, im Ausland bei Montreal, auf vielen weiteren Stationen. «Ich bin mit mir im Reinen», sagt er. Aber auch: «Das kann es noch nicht gewesen sein.»
Schällibaum gilt als einer, der ein Team schnell emotionalisieren und vereinen kann, vielleicht werden seine Dienste erst gegen Ende der nächsten Saison wieder gefragt sein, wenn es gilt, einen Klub als sogenannter Feuerwehrmann aus der Krise zu führen.
Schällibaum geht aufs RAV, wenn er keinen Job findet
Als Jungtrainer arbeitete Schällibaum von 1999 bis 2003 erfolgreich bei den Young Boys. So lange war er danach nie mehr in einem Verein tätig, und vielleicht ist er heute für manche ein wenig aus der Zeit gefallen. Die Trainer werden immer jünger, steigen schon mit 30 ins Geschäft ein. Andererseits: Kürzlich führte der 71-jährige Friedhelm Funkel den 1. FC Köln in den letzten zwei Saisonspielen zurück in die 1. Bundesliga. «Die Konkurrenz unter den Trainern ist riesig», sagt Schällibaum.
Der 63-Jährige sagt, die markantesten Veränderungen in den vergangenen Jahrzehnten als Trainer seien die mediale Aufmerksamkeit, die durch das Internet und Social Media noch einmal deutlich zugenommen hätten, sowie die Anzahl Mitarbeitender – früher habe es vielleicht einen Assistenten gegeben und einen Goalietrainer im Nebenamt; heute seien die Stäbe zuweilen breiter als das Spielerkader selbst. «Einfacher ist es für uns Trainer jedoch nicht geworden», sagt Schällibaum. «Sonst würden wir ja nicht so schnell entlassen werden.»
Schällibaum ist offen für alles, für die Seychellen oder Saudiarabien oder Sitten, ein vielleicht letztes Abenteuer. Er vertraut darauf, dass noch immer eine Türe aufgegangen ist. Und sonst gehe er halt aufs RAV. «Die wenigsten Trainer verdienen Millionen oder zumindest genug, um sorglos leben zu können.»
Entlassung, obwohl Resultate und Auftritte ordentlich waren
Das weiss auch Alessandro Mangiarratti. Der Tessiner ist ausgebildeter Sportlehrer und würde in diesem Beruf kaum weniger Lohn erhalten als ein Trainer in einem Challenge-League-Klub wie Yverdon. Er würde dort nicht einfach so entlassen werden, hätte deutlich weniger Stress, drei Monate Ferien im Jahr, mehr Zeit für seine Familie, für die zwei älteren Kinder aus der ersten Ehe und das kleinere Kind aus der neuen Partnerschaft. Aber Mangiarratti sagt: «Ich bin Fussballtrainer, weil es keinen spannenderen Job gibt. Das ist meine Leidenschaft. Ich liebe die Euphorie am Matchtag.» Wer den Druck nicht aushalte, könne einen normalen Job annehmen. Zum Beispiel als Sportlehrer.
Mangiarratti wurde bei Yverdon kurz vor Weihnachten entlassen, obwohl das Team auf Rang 10 stand und über weite Strecken solide Auftritte gezeigt hatte. Mittlerweile ist Yverdon unter Mangiarrattis Nachfolger Paolo Tramezzani abgestiegen, nachdem das Kader in der Winterpause unter anderem mit Antonio Marchesano vom FCZ verstärkt worden war.
Genugtuung verspürt Mangiarratti überhaupt keine. «Es tat weh, die Jungs so traurig zu sehen nach dem Abstieg.» Natürlich gebe es ein paar Menschen im Klub, die er damals nicht verstanden habe, als er rausgeschmissen worden sei. Er war in den letzten Wochen zur Weiterbildung beim FC Augsburg, aber auch bei italienischen Klubs, er pflegt das Netzwerk und weiss, dass er Geduld haben und seinen Beratern vertrauen muss.
Wie ein CEO auf einer Hierarchiestufe weit unter dem CEO
Mangiarratti sagt, er habe viel in seine Karriere investiert und auf einiges verzichtet. Er träumt von der Champions-League-Hymne, das ist sein Antrieb, das will er als Trainer erleben. «Aber ich war nie Nationalspieler, das macht es nicht einfacher.» Raphael Wicky hat einmal gesagt, man müsse als Trainer auf Jobsuche lernen, auf den idealen Moment zu warten. Er war als Coach mit Basel und mit YB erfolgreich und hat 75 Länderspiele für die Schweiz absolviert – und wartet nun schon seit bald 16 Monaten auf den idealen Moment.
So lange wird Mangiarratti kaum Geduld aufbringen können. Er sagt, es gebe Hunderte von Trainern, die taktisch auf der Höhe seien. «Will man Erfolg haben, geht es am Ende um Leadership.» Menschen führen und fühlen, ein Team bilden, auf und neben dem Platz. Mangiarratti sagt, er sei ein Trainer, der eine Mannschaft entwickeln könne. «Das soll nicht arrogant klingen, aber so selbstbewusst darf ich sein.» Der 46-Jährige geniesst in der Branche einen guten Ruf, galt im YB-Nachwuchs als Trainertalent.
Als Fussballtrainer trägt man eine bemerkenswerte Verantwortung. Man ist eine Art CEO auf einer Hierarchiestufe unterhalb des CEO. Vieles im Berufsleben eines Trainers ist eine Frage des Timings. Vielleicht fällt bald ein Dominostein, der für Bewegung auf dem Trainermarkt sorgt.
Bruno Berners Affinität zu England ist seit seiner Zeit als Spieler bei Leicester und Blackburn bekannt. Doch seit dem Brexit dürfen Schweizer Trainer aufgrund von komplizierten Regeln des englischen Fussballverbandes nur dann in England arbeiten, wenn sie 24 Monate beim gleichen Klub in der Super League tätig gewesen sind oder insgesamt drei Jahre Erfahrung in der obersten Schweizer Spielklasse nachweisen können. Das fehlt Berner.
Das Warten auf den idealen oder vielleicht auch nicht ganz so idealen Moment geht weiter. Und der Blick aufs Handy wird sehnsüchtiger – wann kommt der ersehnte Anruf, das passende Projekt, die nächste Herausforderung?
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